Verleihung des "Memminger Freiheitspreises 1525" an Reiner Kunze am 20. Mai 2009 in der St.-Martins-Kirche, Memmingen

Süddeutsche Zeitung:

Mit der Macht der Worte

Horst KöhlerReiner Kunze erhält den "Memminger Freiheitspreis" – Horst Köhler würdigt sein Lebenswerk

Es ist der Tag der einfachen und starken Worte. "Mir wöllet frei sei" zitiert Memminger Oberbürgermeister Ivo Holzinger den sogenannten "Bauernhaufen", der anno 1525 in seiner Stadt die "Zwölf Bauernartikel" verfasste, um der Knechtschaft zu entgehen. Der Lyriker Reiner Kunze sagt zu den Menschen in der Memminger Stadtkirche St. Martin:
"Wir haben immer eine wahl, / und sei's, uns denen nicht zu beugen, / die sie uns nahmen". Holzinger überreicht Kunze den "Memminger Freiheitspreis 1525" für sein Lebenswerk. Das Publikum würdigt den 75-Jährigen, es erhebt sich von den Plätzen. Kunze wurde einst vom DDR-Regime verfolgt und ausgewiesen...
Bundespräsident Horst Köhler... bezeichnet Kunze als "Akteur der deutschen Freiheitsgeschichte", schließlich sei die DDR-Diktatur "durch das mutige, freie Wort" zu Fall gebracht worden. "Ihre Dichtung macht die Welt bewohnbarer: weil sie die Köpfe der Leser freier macht", sagt Köhler.

Kunze, der seit seiner Ausreise aus der DDR in Obernzell bei Passau lebt,... hat schon zahlreiche hochkarätige Literaturpreise erhalten. Als er das Lob des Bundespräsidenten an seine Familie weitergeben will, versagt ihm kurz die Stimme. "Hätte mir nicht meine Frau zur Seite gestanden, hätten uns unsere Kinder und Enkel nicht den Rücken frei gehalten, und wären da nicht Freunde gewesen, die die Flanken sicherten – vielleicht gäbe es mich gar nicht mehr: "Damit bestätigte er Köhlers Aussage, dass die Freiheit oft einen hohen Preis kostet...

 

Memminger Zeitung:

Übergabe der PreisurkundeEin Kritiker hat Kunze einmal als "unüberhörbar leise" bezeichnet. Gestern konnten 1000 Gäste in der Martinskirche einen Eindruck von der Bescheidenheit des Freiheitspreisträgers gewinnen. Nach der Laudatio des Bundespräsidenten Horst Köhler sagte der Geehrte: "Wenn es einem die Sprache verschlägt, nützt es einem auch nichts, Schriftsteller zu sein." Er bedankte sich mit sieben Gedichten. Eines davon hatte zuvor bereits Köhler vorgetragen:

AUF EINEN VERTRETER DER MACHT
ODER GESPRÄCH ÜBER DAS GEDICHTESCHREIBEN

Sie vergessen, sagte er, wir haben den längeren arm
Dabei ging es um den kopf

Am Vorabend der Preisverleihung las Reiner Kunze im Landestheater Schwaben aus seinem Werk. Er leitete die Lesung mit den Worten ein:
In dem Gedicht "Knochen" des tschechischen Dichters Miroslav Holub heißt es: "Für den wachsenden kopf/ des menschen / suchen wir / ein rückgrat das / gerade bleiben möge."

Reiner KunzeDas vergangene halbe Jahrhundert war ein ständiges Rückgratsuchen, und ich weiß nicht, wie es mir dabei ergangen wäre ohne meine Freunde unter den tschechischen, ungarischen oder polnischen Dichterinnen und Dichtern, ohne den menschlichen Halt, der mir durch sie zuteil wurde, und ohne ihre Poesie. Ich möchte deshalb diese Lesung am Vorabend der Verleihung des Memminger Freiheitspreises mit einer Dank-Hommage an diese Kolleginnen und Kollegen beginnen, an die meist schon toten und die noch lebenden, die so viel für die Freiheit Europas getan haben.

 

Memminger Zeitung:

Einen unvergleichlich eindrucksvollen Abend erlebten die Besucher der Lesung "Münze in allen Sprachen" mit Reiner Kunze im vollbesetzten Stadttheater... Eineinhalb Stunden lang rezitierte der 75-Jährige wie gewünscht im Stehen – ohne Pult, Sitzmöglichkeit und Glas Wasser – Prosa und Gedichte aus seinem umfangreichen, vielschichtigen Lebenswerk, das noch lange nicht beendet zu sein scheint... Dem Publikum, das immer wieder applaudiert, wird sehr schnell klar: Hier steht ein Mann, der auch in schweren Zeiten die Freiheit seiner Gedanken und seine Menschlichkeit bewahrt hat...

Fotos: Brigitte Waltl-Jensen