Mein Großvater mochte Tiere, und ich bin sicher, die Tiere haben das gespürt. Im Ersten Weltkrieg, als die Kanonen noch von Pferden gezogen wurden, kam eines Tages der Bataillonstierarzt zu ihm und sagte, es sei bekannt, daß er auch mit schwierigen Pferden umzugehen verstehe – ob er sich zutraue, ein Pferd zu übernehmen, das ausschlage und beiße, als sei es der leibhaftige Teufel? Wenn nicht, müsse man es töten. Mein Großvater sagte »Zu Befehl!«, und das Pferd wurde auf den Platz geführt. Es war ein Apfelschimmel. Das erste, was mein Großvater tat, war, das Wort an ihn zu richten. »Bist du ein schönes Tier!« sagte er zu dem Pferd. »Nein, was für ein schönes Tier du bist!« Der Tierarzt und die Soldaten der Batterie standen in sicherer Entfernung und warteten ab. Wieder und wieder ging mein Großvater um das Pferd herum, und als er meinte, lange genug mit ihm gesprochen zu haben, stellte er sich direkt vor das Maul des Pferdes und rührte sich nicht mehr. Da begann das Pferd, ihm das Gesicht abzulecken, und auf dem Platz wurde es ganz still. Schließlich bekam es noch beide Hände hingehalten, und auch sie wurden abgeleckt. Von diesem Tag an habe ihm der Schimmel jeden Morgen Gesicht und Hände »gewaschen«, sagte mein Großvater. Beißen? Treten? Jeden Fremden – ja, nie aber ihn. »Im Schweiß ist nämlich Salz«, sagte er, »und das mögen die!«
Aus: Am Sonnenhang, Tagebuch eines Jahres
Richard Kunze auf dem "bösen Pferd"
(Foto aus dem 1. Weltkrieg)
»Am Sonnenhang heißt (...) sein neues Tagebuch (...). Man schlägt es auf, (...) liest sich fest und atmet auf: Da ist er wieder, der faszinierende, betroffene und verhaltene Kunze-Sound, diese Mischung aus Prosa-Genauigkeit (...), sowie aus Ingrimm und ironischer Heiterkeit (...). Es gibt also noch den typischen Kunze-Ton und seine Aura.
Joachim Kaiser, Süddeutsche Zeitung