Schriftsteller sein in Deutschland

Vortrag von Reiner Kunze am 4. Mai 2011 in
der Aula des Konrad-Duden-Gymnasiums in Schleiz

Reiner Kunze kommentiert nicht, er argumentiert nicht, er deutet nicht, er spricht nicht über die Dinge. Er zeigt! Er zeigt eine Miniatur nach der nächsten, siebzig Minuten lang. Fein säuberlich legt er frei, was war, macht es mit leiser und präziser Sprache anschaulich, so dass man es vor dem inneren Auge sehen kann. Mit großer Wachheit enthält er sich jeder Verallgemeinerung. Alles ist konkret. Nach ca. zwanzig Minuten denke ich: Mein Gott, hat ein Schriftsteller wie Reiner Kunze nach so bewegten Lebensjahrzehnten nicht mehr zu sagen? Reiner Kunze aber nimmt das nächste kleine Stück Leben aus dem Staub, erhebt es zur Sprache und hält es seinen Zuhörern hin wie eine wundervolle Miniatur auf ausgestreckter Hand. Es braucht einige Zeit, bis ich endlich verstehe, dass genau darin die große Meisterschaft des Reiner Kunze liegt. So viele haben gegen ihn gestritten in den Jahrzehnten. Und all die Waffen der Sprache, die man gegen ihn gewandt hat, die Sprache der Demagogie, die Sprache der Ideologie, die Sprache der Denunziation, die Sprache der Arroganz, die Sprache der Verführung. Er lässt sie

alle liegen. Er bekämpft die Ideologien nicht mit einer neuen Ideologie. Er bekämpft überhaupt nicht. Reiner Kunze zeigt – so konkret es irgend geht. Und allein darin liegt ein großes Vertrauen zum Menschen, das Vertrauen, dass ein Mensch, wenn er mit wachenden Augen zu sehen lernt, auch mit wachem Verstand denken wird. Aber, was man denkt, das überlässt er seinen Zuhörern. Reiner Kunze verführt nicht, es ist genug verführt worden. Er überlistet nicht mit seiner Sprache. Wer Augen hat zu sehen, der sehe. Wer Ohren hat, zu hören, der höre. Nach siebzig Minuten sind Jahrzehnte deutscher Geschichte so lebendig im Raum, wie es wohl keine noch so komplexe Reflexion über die deutsche Geschichte vermocht hätte. Und man schaut durch die Jahrzehnte und siehe da, all die Kaiser haben plötzlich keine Kleider mehr an, schon gar keine neuen, und verstecken verschämt ihre Blöße. Reiner Kunze aber verneigt sich leise – und ist einen Augenblick lang wie das Kind aus jenem Märchen.

Ralf-Peter Fuchs

 

»Wenn wieder eine Wende kommt.«

Edition Toni Pongratz, Hauzenberg